Einführung für Wissenschaftler:innen und Studierende

Zum Ursprung des Formats und zu den Zielen der transfomativen Forschung

Ziele und Methoden der transformativen Forschung

Reallabor ist ein wichtiger Ansatz der transformativen Forschung (Schneidewind, Singer-Brodowski 2014a, UBA 2017). Ziele dieses Forschungsfeldes wurden erstmals 2011 vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen umfassend formuliert. In dem Hauptgutachten bekräftigte der WBGU die dringende Notwendigkeit der „Großen Transformation“ hin zur Klimaverträglichkeit und Nachhaltigkeit. Der Wandel müsse „tiefgreifende Änderungen von Infrastrukturen, Produktionsprozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen sowie ein neues Zusammenspiel von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft“ (WBGU 2011: 1) umfassen. Wissenschaft und Forschung müssen demnach eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen spielen und zum Motor des Wandels werden:

Transformative Forschung unterstützt Transformationsprozesse konkret durch die Entwicklung von Lösungen sowie technischen und sozialen Innovationen; dies schließt Verbreitungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Möglichkeiten zu deren Beschleunigung ein und erfordert zumindest in Teilen systemische Betrachtungsweisen, inter- und transdisziplinäre Vorgehensweisen, inklusive der Beteiligung von Stakeholdern.

WBGU 2011: 342f.

Das Verstehen komplexer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse der Energie-, Verkehrs-, Produktions- und Agrarsysteme etc. mit bewährten wissenschaftlichen Methoden wie Beobachtung und Modellierung sowie aus der Perspektive einzelner Disziplinen stößt schnell an seine Grenzen. Transformativ forschende Wissenschaftler:innen begeben sich experimentierend in die untersuchten Veränderungsprozesse, sie gestalten diese Prozesse mit. Das gemeinsame Forschen von Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen (Interdisziplinarität) und mit den gesellschaftlichen Praxisakteur:innen (Transdisziplinarität) ist dabei Voraussetzung. Methodisch speist sich die transformative Wissenschaft aus der transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung, der partizipativen Aktionsforschung, Feldforschung, Interventionsforschung oder auch der Transition-Forschung. Diese Forschungsansätze werden im Konzept des Reallabors vereint und weiterentwickelt.

Astrid Ley, Stadtplanerin und Architektin

 

„Der Wandel hin zu einer nachhaltigen Zukunft in unseren Städten birgt eine Vielzahl von Herausforderungen. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen haben sich etablierte Planungsansätze und Rollenbilder als unzureichend erwiesen. Es bedarf einer Neuausrichtung der Stadtplanungs- und Städtebaupraxis. Reallabore können hier neue Denk- und Handlungsräume eröffnen.“

Reallabor als Forschungsansatz

Unter Reallaboren versteht man „wissenschaftlich konstruierte Räume einer kollaborativen Nachhaltigkeitsforschung mit Interventionscharakter“ (WBGU 2016: 542, TATuP-Schwerpunkt 2016). Diese „gemeinsamen Forschungswerkstätten“ befassen sich mit einer realweltlichen Problemstellung. Sie schaffen nicht nur Systemwissen über Strukturen, Prozesse usw., sondern in Kooperation mit Akteur:innen aus der Praxis Zielwissen in Form von Visionen, Leitbildern, Szenarien wünschenswerter Zukünfte sowie evidenzbasiertes, in der gesellschaftlichen Realität verankertes Transformationswissen für nachhaltigen Wandel. Dieses Wissen stellt eine Art Handlungsanweisung dar, wie man vom Ist- zum Soll-Zustand gelangen kann (ProClim- 19982:15ff.)

Transformationszyklus und drei Arten von Wissen, nach der tF-Grafik des Wuppertal Instituts

Experimentieren in einem Reallabor

Als zentrale Methode des Verstehens und Gestaltens werden Realexperimente eingesetzt. In Anknüpfung an die experimentelle Wende in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wird der Begriff „Labor“ in die Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse übertragen. Bietet ein naturwissenschaftliches Labor einen kontrollierten Rahmen der Wissenserzeugung, so finden die Realexperimente in der Alltagsrealität – Stadt, Quartier, Unicampus, Unternehmen etc. – statt und können nur bedingt gesteuert werden. „Reallabore bieten einen konkreten zeitlichen und geografischen Ort zur Beheimatung“ der Realexperimente. Hier werden konkrete Veränderungsprozesse katalysiert, um idealerweise skalier- und transferierbare Erkenntnisse zu erarbeiten (Schäpke et al. 2017: 5, 50). Auf diese Weise soll einerseits sozial robustes Wissen entstehen, Wissen, das sowohl an die wissenschaftliche Debatte anschlussfähig ist als auch Orientierung für das Handeln der Praxisakteur:innen vor Ort gibt (De Flander et al. 2014). Andererseits tragen die Wissenschaftler:innen im Reallabor aktiv zur wirkungsvollen Umsetzung von Wissen bei.

Elke Uhl, Kulturwissenschaftlerin

Das Reallabor ist ein Experimentierraum inmitten unserer komplexen Lebenswelt. Es zielt darauf, eingefahrene Verhaltensroutinen zu reflektieren und neue Handlungspraktiken zu erproben, die angesichts der planetarischen Grenzen not tun. Ein Reallabor stellt sich der Frage, wie wir vom Wissen um die großen Herausforderungen unserer Zeit zum wirklich zukunftsfähigen Handeln kommen können. Dazu arbeiten Akteure aus den unterschiedlichen Bereichen gemeinsam an Forschungs- und Reflexionsformaten. Das Co-Design von Realexperimenten ist dabei zentral.“

Neben dieser doppelten Zielsetzung – Produktion von Wissen für den Wandel (Forschungsziele) und Anstoßen von Transformationsprozessen (Praxisziele) – verfolgt das Reallabor auch Bildungsziele (Beecroft et al. 2018: 78, 82f; Schneidewind, Singer-Brodowski 2015, Beecroft 2020). Im Rahmen der Reallaborprojekte werden Lehrveranstaltungen organisiert, die exploratives, inter- und transdisziplinäres Lernen und Forschen der Studierenden fördern. Außerdem bietet ein Reallabor „einen unterstützenden, geschützten Rahmen für Information, Austausch, Kooperation, Interventionen sowie Evaluation und Reflexion. Die Herstellung eines solchen ‚Freiraums‘ ermöglicht Bildungsprozesse bei den beteiligten Akteuren, unabhängig davon, ob dies explizit mit dem Ziel der Bildung geschieht“ (Beecroft et al. 2018, 83).

Reallabore in Baden-Württemberg

Das Land Baden-Württemberg fördert Forschung und Bildung zur Unterstützung der Transformation und setzte früh auf das kaum erprobte Format. Auf Empfehlung der Expertenkommission werden Reallabore seit 2015 im Rahmen des Programms „Stärkung des Beitrags der Wissenschaft für eine nachhaltige Entwicklung“ (MWK 2013) als Forschungs- und Transformationsinstrument eingesetzt (Wagner, Grunwald 2015; 2019). Die Ausschreibung mehrerer Förderlinien durch das Wissenschaftsministerium führte zur Verbreitung der Reallaboridee sowie zur Etablierung dieses Ansatzes an den Hochschulen (GAIA Special Issue 2018).

Zum Seitenanfang