Einführung für Praxisakteure, Zivilgesellschaft und Ins-Machen-Kommende

Welche Wege können wir gehen, um den Wandel zur Nachhaltigkeit zu beschleunigen?

Die „Große Transformation“ und die Rolle der Wissenschaft

Energiewende, Verkehrswende, Agrarwende, Bauwende etc. sind große Herausforderungen unserer Zeit. Für die Gesundheit der Erde und der Menschen ist der Wandel zur Nachhaltigkeit in einer von Krisen geprägten Zeit dringender denn je. Darunter verstehen wir eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“ (Nachhaltigkeitsdefinition der Brundtland-Kommission, 1987).

Wie gelingt uns das Umdenken? Was hilft uns die gewohnten Pfade zu verlassen, Routinen zu durchbrechen und unsere Verhaltens- und Lebensweisen nachhaltig zu gestalten? Was gibt uns den letzten Anstoß, vom Wissen zum Handeln zu kommen?

Wissenschaft, die ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt, sucht nach neuen Wegen, die Forschung darauf auszurichten, diesen Herausforderungen zu begegnen. Die Komplexität der „wicked problems“ (Rittel/Webber, 1973) wie Klimawandel, Ressourcenknappheit und Transformation der Städte verlangen nach gesamtgesellschaftlichen Lösungen und können nicht im Alleingang bewältigt werden. Die „Große Transformation“ verlangt nach tiefgreifenden ökologischen, technologischen, ökonomischen, institutionellen und kulturellen Umbruchsprozessen. Ein Erfolgsrezept gibt es nicht. Unterschiedliche Forschungsformate einer Zusammenarbeit der Wissenschaft mit der Gesellschaft bekamen vor allem im letzten Jahrzehnt zunehmend größere Bedeutung und weckten hohe Erwartungen, solche „Rezepte“ entwickeln zu können. Der Austausch und das Verschmelzen unterschiedlicher Expertisen und Erfahrungen im gemeinsamen Forschungsprozess eröffnet neue Perspektiven, neues zum Handeln befähigendes Wissen zu schaffen.

Brigitte-Maria Lorenz, Nachhaltigkeitsmanagerin | Green Office

 

„Reallabor bedeutet für mich praxisnahe Nachhaltigkeitsforschung in Zusammenarbeit mit allen wichtigen Betroffenen, die von Anfang an zu Beteiligten gemacht werden. Mit vereinten Kräften können wir große gesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimaneutralität bewältigen.“

 

Reallabor und Realexperimente

In den frühen 2010er Jahren kam in der transformativen Forschung – Wissenschaft, die den gesellschaftlichen Wandel zur Nachhaltigkeit anstößt und erforscht – der Begriff „Reallabor“ auf. In einem Reallabor begeben sich Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen gemeinsam mit den betroffenen Akteur:innen aus der Politik, Wirtschaft, Kultur, Verwaltung und Zivilgesellschaft in realweltliche Problemkontexte (z.B. in einer Region, Stadt, einem Quartier oder einem Unicampus). Gemeinsam formulieren sie Fragestellungen (Co-Design) und entwickeln Lösungsstrategien (Co-Kreation), die soziale und technologische Innovationen beinhalten. Denn auch wenn alle sich über die Ziele und ihre gesellschaftliche Relevanz weitgehend einig sind, müssen die Wege zum Erreichen dieser Ziele unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven und Interessen erst ausgehandelt werden. 

Nur wenn notwendige Kompromisse geschlossen werden, können Realexperimente – das Kernstück eines Reallabors – von der Mehrheit der Akteur:innen getragen werden, und ihre Ergebnisse können höhere Akzeptanz erlangen. In einem „Realexperiment“ erprobt man gemeinsam entwickelte Lösungsansätze im realen Raum und unter realweltlichen Bedingungen, um daraus zu lernen. Eine Laborsituation im realweltlichen Kontext bringt viele Herausforderungen mit sich, hat andererseits aber große Vorteile. Die Ergebnisse eines lokalen Realexperiments sind konkret und praxistauglich, und können im besten Fall auf weitere Kontexte übertragen werden. Das ergebnisoffene Forschen in einem Reallabor lässt auch das Scheitern der Realexperimente zu.

Martina Baum, Architektin und Stadtplanerin

„In seinem transdisziplinären und transformativen Ansatz geht das Forschungsformat 'Reallabor' von einem positiven zukünftigen Zustand aus. In einem Reallabor zu forschen eröffnet einen Denk- und Handlungsraum gleichermaßen. Mittels des Entwerfens einer anderen Zukunft werden Ideen räumlich konkret und damit erlebbar im Stadtraum, zudem wird die Wirklichkeit und vorliegendes Wissen hinterfragt und durch das Experimentieren neues Wissen geschaffen: Bürgerschaft, Verwaltung und Wissenschaft verhandeln gemeinsam und aktiv gestaltend unsere Lebensumwelt.“

Zukunft gestalten in Reallaboren

Reallabore sind Orte des Experimentierens und der Innovation, sie werden als Inkubatoren wünschenswerter künftiger Wirklichkeit aufgefasst. Mit den Reallaboren kann der gesellschaftlichen Wandel in allen vier Dimensionen transformativer Zukunftsgestaltung vorangetrieben werden.

Mit den Reallaboren kann der Wandel in vier Dimensionen (d.i. technologisch, ökonomisch, kulturell und institutionell) transformativer Zukunftsgestaltung vorangetrieben werden.
Die vier Dimensionen der Zukunftskunst, nach Uwe Schneidewind 2018

Reallabore sind großformatige Forschungsprojekte, die Wissenschaftler:innen initiieren und gemeinsam mit der Öffentlichkeit umsetzen. Reallaborprojekte sind gelebter Wissensaustausch zwischen Wissenschaftseinrichtungen und der Stadt/Region. Die Beteiligung von Praxisakteuren an der Forschung verstärkt die gesellschaftliche Relevanz und Wirkung der Forschungsergebnisse. 

Als eines der ersten Bundesländer fördert das Land Baden-Württemberg seit 2015 Reallabore. Vielfältige Projekte im Land wurden seitdem im Förderzeitraum i.d.R. von 3 Jahren unterstützt, aufgebaut und umgesetzt. Nach der Anpassung der Förderbedingungen werden Reallaborprojekte in einem zweistufigen Bewerbungsverfahren ausgelobt, der eigentlichen Förderzeit von 3 Jahren wird eine einjährige Konzeptionsphase vorgelagert.

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