Fishbowl-Diskussion in der St. Maria

Projektabschluss und Ausstellung

Fishbowl & Ausstellungseröffnung am 22. Juni 2023 in der St. Maria Kirche
[Foto: IZKT]

Reallabore – Stuttgarter Akteure ziehen Bilanz

Rund 10 Jahre ist es nun her, dass das Land-Baden-Württemberg ganz neue Wege der Forschungsförderung beschritt. Unter dem Titel der „Reallabore“ wurde ein Format eingeführt, das mittlerweile zu den Exportschlagern gehört. Allerorten entstehen Reallabore, es ist bisweilen gar eine regelrechte Inflation und Verunklarung des Begriffs zu beobachten. Ein guter Zeitpunkt also, um Bilanz zu ziehen, Erfahrungen auszutauschen und nach den Perspektiven zu fragen. Das geschah im Rahmen der Urban Future Conference als side event, womit zugleich ein von der Universität Stuttgart gefördertes Wissenstransferprojekt zu Reallaboren seinen öffentlichkeitswirksamen Abschluss fand.

Dass die Diskussion über Reallabore nicht von einem Podium herab, nicht für, sondern mit dem Publikum geführt werden muss, scheint selbstevident. Folglich lud das IZKT zu einer Fishbowl-Diskussion, einem interaktiven Format, bei dem ein freier Stuhl im inneren Kreis für alle aus dem Publikum bereitsteht. Aber nicht nur das Format, auch der Ort war ungewöhnlich: Die Kirche St. Maria wurde zu einer Art Ideenparlament, als am 22. Juni 2023 der Moderator Johannes Nöldeke von der Universität Stuttgart Gäste und Publikum begrüßte.

Im sogenannten Goldfischglas waren Akteure des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur wie Astrid Ley, Professorin für Internationalen Städtebau an der Universität Stuttgart, oder Ali Hajinaghiyoun, Architekt & Stadtplaner, und Johannes Heynold, Architekt, Urbanist und mittlerweile Gründer des Studios „JoHey!“. Auch Politik und Verwaltung waren vertreten, durch Susanne Scherz, Leiterin der Abteilung Straßenverkehr beim Ordnungsamt der LHS Stuttgart, und Christoph Ozasek, Stadtrat und Sprecher im Ausschuss für Klima und Umwelt & für Mobilität und Energie. Felix Wagner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel“ komplettierte die Runde. Er hat die Reallabor-Idee während seiner Zeit im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (2015-2019) angeschoben und die Umsetzung erster Reallabore im Land begleitet.

Dass mit den Reallaboren tatsächlich eine völlig neue Form des Forschens und forscherischen Handelns umgesetzt wurde, wurde von allen Seiten gelobt. Das Aufbrechen von Freiräumen für Experimente sei nötiger denn je. Vor allem aber erlaube das Format den allseits geforderten Schritt des „Ins-Handeln-Kommens“. Denn abstrakte und theoretische Kenntnisse über die Transformation zur Nachhaltigkeit gäbe es in Hülle und Fülle. Dennoch geschehe viel zu wenig, viel zu langsam. Vertrauensbasierte Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung brauche Zeit, betonte Susanne Scherz. In Stuttgart habe das Reallabor zur nachhaltigen Mobilitätskultur (2015-2020) viel in Bewegung gebracht. Aber man müsse auch in langfristigen Zeiträumen denken.

Ali Hajinaghiyoun und Johannes Heynold berichteten von der Aufbruchsstimmung, von Euphorie, aber auch von Enttäuschungen. Vor allem die Bedeutung der sogenannten Parklets und die damit einhergehende Debatte über den öffentlichen Raum wurden besonders hervorgehoben. Aber es wurde auch die Frage gestellt, für wen die Förderung eigentlich welche Möglichkeiten eröffnete und welche Anreize setzte. Astrid Ley gab zu bedenken, dass für Hochschulkarrieren das Engagement in derartig experimentellen Formaten eher hindernd sei.

Christoph Ozasek mahnte die Skalierung von Projekten an. Perfekte Leuchttürme seien schön, aber gesucht seien die großen Hebel, die die Dinge in die Breite brächten. Auch Felix Wagner stellte die Frage, wie eine Fortentwicklung der Reallabore aussehen könnte. Wie lässt sich sicherstellen, das zarte Pflänzchen der Innovation nicht vertrocknen, ja dass Netzwerke, Ideen, Visionen weitergetragen werden?

Die Beiträge aus dem Publikum machten deutlich, wie stark die soziale Wirkung von Reallaboren sein kann: Nachbarn, die kaum je mehr als eine Begrüßung füreinander übrighatten, lernten sich nun plötzlich kennen, ja sie kooperierten sogar. Sie gründen Vereine und erleben ihre Selbstwirksamkeit, indem sie Einfluss auf die städtische Stadtplanung nehmen. Genau das sei gesucht, wenn in Sonntagsreden vom „sozialen Zusammenhalt“ die Rede ist. Mit derartigen Formen der Stadtentwicklung gehöre man allerdings nicht etwa zur Avantgarde, sondern beschreite Wege, die andernorts längst Routine seien, so wurde kritisch angemerkt.

Brauchen wir also nach den Reallaboren die „Skalierungslabore“? Dürreperioden, Hitzewellen und Extremwetterereignisse verdeutlichen, dass die vielbeschworene Dynamik womöglich mehr erzwungen werden wird, als dass sie aktiv gesucht werden könnte: Viele Städte drohen von der Entwicklung überrollt zu werden. Umso dringender sind systematische Erforschung und konzeptionelle Fortentwicklung der Reallabore. In diesem Sinne stellte die Debatte weniger einen Schlussakkord unter das Experiment der Reallabore dar, sondern vielmehr einen Auftakt.

Autor: Felix Heidenreich

Veranstaltungsankündigungen

Pressemeldungen und -berichte zur Veranstaltung sowie der UF23 in Stuttgart (Auswahl)

  • Judith A. Sägesser: Urban Future im Juni 2023. Wie kann Stuttgart noch besser werden? Stuttgarter Zeitung, 09.06.23 >> zum Artikel
  • Andreas Linke: Urban Future Conference in Stuttgart, ZDF-Nachrichten, 21.06.23 >> zum Bericht
  • Judith A. Sägesser: Urban Future in Stuttgart. Damit das Zukunftsfieber in der Stadt bleibt, Stuttgarter Zeitung, 23.06.23 >> zum Artikel
  • Jan Sellner: Urban Future Conference in Stuttgart. Australiens Lebensmittelretterin auf Markt-Tour, Stuttgarter Zeitung 22.06.23 >> zum Artikel
  • Dietrich Heißenbüttel: Urban-Future-Konferenz in Stuttgart. Zukunft für zahlende Gäste, Kontext: Wochenzeitung, 28.06.23 >> zum Artikel
  • #UF23 Highlight Video >> zum Video

Video

02:46
Video-Transkription

Poster der Ausstellung "Stuttgarter Reallabore. Experimentieren für den Wandel?"

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