Habitus und Habitussensibilität an der Hochschule

Unsere Verhaltensweisen und unser Auftreten tragen maßgeblich dazu bei wie Andere uns wahrnehmen. Sie sind zu großen Teilen durch unsere soziale Herkunft und Sozialisation vorherbestimmt. In diesem Informationspaket erfahren Sie mehr zu den Themen Habitus und Habitussensibilität und wie diese First-generation Studierende im Hochschulkontext beeinflussen.

Habitus und Habitussensibilität

Was ist Habitus?

Der Begriff des ‚Habitus‘ wurde vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt und bezieht sich auf die Normen, Werte und Gepflogenheiten verschiedener sozialer Klassen (vgl. Bourdieu, 1987). Nach Bourdieus Verständnis erlernen Menschen soziale Handlungsweisen dadurch, dass sie sich am Vorbild ihres direkten sozialen Umfelds orientieren, diese übernehmen und habitualisieren (vgl. Grunau, 2017; Bourdieu und Passeron, 1971). Diese sozialen Handlungsweisen beinhalten unter anderem gesellschaftliche Konventionen oder Gepflogenheiten, Normen und Werte, das Verhalten, die Art zu sprechen und sich zu kleiden sowie auch die ausgeübten Hobbies etc. – also quasi das generelle Auftreten einer Person. Es entsteht somit ein Repertoire an Handlungsmustern, welches – meist unbewusst – angewandt wird (vgl. Grunau, 2017; Thomas, 2002; Bourdieu und Passeron, 1971). Dieses Repertoire an Handlungsmustern wird dabei vom sogenannten Habitus umgrenzt – er bildet eine Art "Rahmung des Handlungsspielraums" (Grunau, 2017, S. 44; vgl. Bourdieu und Passeron, 1971).

Warum ist der Habitus im Kontext der Hochschulbildung von Relevanz?

Hochschulen setzen meist standardmäßig einen Habitus voraus, welcher an erwünschte Arten des Sprechens und Schreibens sowie an bestimmte Verhaltensweisen gekoppelt ist. Dieser Habitus gleicht dabei hauptsächlich dem von Akademikerfamilien (vgl. Hewertson und Tissa, 2022; Maclean, 2022). Studierende aus Nichtakademikerfamilien erfüllen diese Standards zunächst meist nicht, da sie durch ihre bisherige Sozialisierung oftmals andere Normen und Handlungsweisen – einen anderen Habitus – vermittelt bekommen haben (vgl. Hewertson und Tissa, 2022; Maclean, 2022). Es kann somit zu einer Nicht-Passung zwischen eigenem Habitus und den sozialen Rahmenbedingungen kommen (vgl. Grunau, 2017; Bourdieu und Passeron, 1971). Dies führt häufig dazu, dass betroffene Studierende ein Gefühl entwickeln, nicht richtig zur Hochschule zu gehören oder kulturell und sozial inkompetent zu sein (vgl. Bargel und Bargel, 2010; Hewertson und Tissa, 2022). Aufgrund dessen sind betroffene Studierende sogar eher gefährdet ihr Studium vorzeitig abzubrechen (vgl. Thomas, 2002). Eine Anpassung an den hochschulspezifischen Habitus ist durchaus möglich, aber ein langer Prozess, welcher mit zusätzlichen Anstrengungen verbunden ist (vgl. Thomas, 2002).

Was bedeutet Habitussensibilität in einem Hochschulkontext?

Ziel einer habitussensiblen Lehre ist es, "Sensibilität und Reflexion des eigenen Habitus in der Interaktion und Relation zwischen Lehrenden und Lernenden" (Schneickert, 2019, S. 95) als Kernbestandteil der Hochschullehre zu etablieren. Somit soll sogenannten Habitus-Struktur-Konflikten, d. h. einer Nicht-Passung des herkunftsspezifischen Habitus der Studierenden und des hochschulspezifischen Habitus, und damit einhergehenden herkunftsbezogenen Vorurteilen vorgebeugt werden. So kann eine Grundlage dafür geschaffen werden, die individuellen Start- und Rahmenbedingungen der Studierenden zu berücksichtigen (vgl. Schneickert, 2019; Günther und Koeszegi, 2015; Rheinländer, 2015; El-Mafaalani, 2014; Schmitt, 2010).

Warum ist Habitussensibilität an der Hochschule von Relevanz? Und wie lässt sich dies umsetzen?

Beschäftigte und Lehrende an Hochschulen verfügen aufgrund ihres Status gegenüber den Studierenden über ein höheres Maß an Macht (bspw. begründet durch ihre Bewertungsfunktion). Sie sollten sich ihrer Machtposition und der damit einhergehenden Verantwortung bewusst sein und diese aktiv reflektieren. Ihr eigener Habitus hat nämlich automatisch einen Einfluss darauf, wie sie ihre Studierenden wahrnehmen und sich ihnen gegenüber Verhalten. Dies kann somit wiederrum zu einer Benachteiligung von Studierenden führen, die einen abweichenden Habitus aufweisen – also vor allem von Studierenden nichtakademischer Bildungsherkunft. So kann es unterbewusst zu stereotypen Zuschreibungen kommen, im Zuge derer bspw. diejenigen Studierende als besonders intelligent und gebildet erlebt werden, deren Habitus mit dem hochschulspezifischen Habitus bereits größtenteils übereinstimmt – sei es aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder bisheriger Anpassungsleistungen. Studierende mit abweichendem Habitus, welcher sich im Hochschulkontext häufig an der Sprechweise bemerkbar macht, werden hingegen als weniger intelligent oder faul wahrgenommen. Um solchen stereotypen Zuschreibungen vorzubeugen und für ein faires und inklusives Lernumfeld zu sorgen, sollten Sie sich aktiv mit  Ihrem eigenen Habitus auseinandersetzen und reflektieren wie dieser die Interaktion mit den Studierenden prägt (vgl. Misamer und Thies, 2019).

Zu einer strukturierten Reflexion Ihres eigenen Habitus und wie dieser Ihre Lehre und Denk- oder Handlungsweisen prägt, orientieren Sie sich z.B. an diesen Reflexionsimpulsen: 

Reflexionsimpulse zur eigenen Bildungsbiographie:

    • Welche Startvoraussetzung hatte ich selbst für mein Studium?
    • Hatte ich ein Vorbild (z.B. in der eigenen Familie) für mein Vorhaben ein Studium zu absolvieren?
    • Habe ich Unterstützung für meinen Studienwunsch durch meine Familie erfahren? Welche Hürden musste ich alleine bewältigen?
    • Habe ich selbst Diskriminierung (z.B. wegen meines Geschlechts oder meiner Nationalität oder sozialen Herkunft) oder eine Bevorzugung während meines Studiums/Werdegangs/Lebens erlebt? Welcher Art?
    • Habe ich mich ausschließlich auf mein Studium konzentrieren können? Hatte ich familiäre Verpflichtungen oder musste ich mein Studium durch einen Nebenjob selbst finanzieren?

Reflexionsimpulse zum Selbstverständnis als Lehrende*r:

    • Welche Bedeutung hat z.B. meine Nationalität, mein Geschlecht, mein Alter oder mein persönlicher Lebensentwurf auf meine Rolle als Lehrende*r?
    • Welche Bedeutung haben diese Merkmale meiner Persönlichkeit für die Studierenden und ihr Verhalten?
    • Inwieweit sehe ich Diversität als bereicherndes Element für den Lernprozess?
    • Ist meine Erwartung hinsichtlich der Leistung der einzelnen Studierenden unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Alter, sozialer Herkunft etc.?
    • Welche stereotypen Vorstellungen habe ich gegenüber meinen Studierenden bzw. den unterschiedlichen Gruppen und wie sind diese entstanden?
    • Reproduziere ich in meiner Lehrveranstaltung Stereotype durch mein eigenes Verhalten?

Reflexionsimpulse zur Vielfalt der Studierenden:

    • Wie divers ist meine Studierendengruppe? Inwieweit ist ihre Diversität sichtbar oder unsichtbar?
    • Welchen Stellenwert räume ich der Heterogenität der Studierenden in meiner Lehrveranstaltung ein?
    • Hat die Diversität meiner Studierenden Einfluss auf die Ausgestaltung meiner Lehrveranstaltung? Was bedeutet die Diversität der Studierenden für meine Lehrveranstaltung / für den Lernprozess?
    • Welche Hürden gibt es für die einzelnen Studierendengruppen aufgrund bestimmter Diversitätsfaktoren?

Zum Weiterlesen: 
Bargel, H. & Bargel, T. (2010). Ungleichheiten und Benachteiligungen im Hochschulstudium aufgrund der sozialen Herkunft der Studierenden. Hans-Böckler-Stiftung.

Bourdieu, P. (1987). Reflexive Anthropologie. Suhrkamp.


Bourdieu, P. & Passeron, J.-C. (1971). Die Illusion der Chancengleichheit. Klett.

El-Mafaalani, A. (2014). Habitus-Struktur-Sensibilität – (Wie) kann ungleichheitssensible Schulpraxis gelingen? In T. Sander (Hrsg.), Habitussensibilität (S. 229-245). Springer VS. 

Grunau, J. (2017). Habitus und Studium. Springer VS. 

Günther, E. A. & Koeszegi, S. T. (2015). „Das ist aber nicht der akademische Gedanke“ – Ansprüche an Lehrende und von Lehrenden einer Technischen Universität. In K. Rheinländer (Hrsg.), Ungleichheitssensible Hochschullehre (S. 141-163). Springer VS. 

Hewertson, H. & Tissa, F. (2022). Intersectional Imposter Syndrome: How Imposterism Affects Marginalised Groups. In M. Addison, M. Breeze, & Y. Taylor (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Imposter Syndrome in Higher Education (S. 19-36). Springer International.  

Maclean, C. (2022). Rise with Your Class, not Out of Your Class: Auto-Ethnographic Reflections on Imposter Syndrome and Class Conflict in Higher Education. In M. Addison, M. Breeze, & Y. Taylor (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Imposter Syndrome in Higher Education (S. 159-172). Springer International. 

Misamer, M. & Thies, B. (2019). Macht- und statussensible Hochschullehre. In D. Kergel & B. Heidkamp (Hrsg.), Praxishandbuch Habitussensibilität und Diversität in der Hochschullehre (S. 497-514). Springer VS. 

Rheinländer, K. (2015). Von der Bedeutung und der Möglichkeit einer ungleichheitssensiblen Hochschullehre. In K. Rheinländer (Hrsg.), Ungleichheitssensible Hochschullehre (S. 47-69). Springer VS. 

Schmitt, L. (2010). Bestellt und nicht abgeholt – Soziale Ungleichheit und Habitus-Struktur- Konflikte im Studium. VS Verlag für Sozialwissenschaften. 

Schneickert, C. (2019). Die Bildungsexpansion und die Beschäftigungssituation des akademischen Mittelbaus als Herausforderungen habitussensibler Hochschullehre. In D. Kergel & B. Heidkamp (Hrsg.), Praxishandbuch Habitussensibilität und Diversität in der Hochschullehre (S. 83-105). Springer VS. 

Thomas, L. (2002). Student retention in higher education: the role of institutional habitus. Journal of Education Policy, 17(4), 423-442. 

 

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