Ausländische Studierende bereichern die Universität Stuttgart sowohl in kultureller als auch in akademischer Hinsicht. Um dies zu würdigen, stellt der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) jährlich Mittel zur Vergabe eines Preises an hervorragende ausländische Studierende zur Verfügung.
Dieses Jahr hat das Dezernat Internationales Abdelwaheb El Houimel ausgewählt. Der Preisträger aus Tunesien studiert Luft- und Raumfahrttechnik an der Universität Stuttgart. Neben seiner fachlichen Qualifikation erhält er den Preis vor allem aufgrund seines breiten sozialen Engagements. Er ist Teilnehmer und Mitglied eines interdisziplinären Teams der School for Talents. Außerdem ist El Houimel im Vorstand des Vereins „Future Visions Association", der sich der Ausbildung und Unterstützung von jungen Menschen in Tunesien in unterschiedlichen Bereichen des Lebens widmet.
In diesem Jahr wurde der DAAD-Preis am Tag der Lehre und des Lernes am 30. November 2022 verliehen.
Im Interview erzählt Abdelwaheb El Houimel, welche Erfahrungen ihn bewegen, sich an der Universität Stuttgart und ehrenamtlich im Verein zu engagieren:
Warum haben Sie den Studiengang Luft- und Raumfahrttechnik gewählt?
In meinem Heimatland gelten Raketenwissenschaft und Luft- und Raumfahrt, wie in vielen anderen Kulturen, als hochkomplexe und schwer zugängliche Wissenschaftsbereiche, die nur die Elite erlernen kann. Dies verlieh der Luft- und Raumfahrt in unserer Gesellschaft einen sehr prestigeträchtigen Status sowie auch eine gewisse mysteriöse Aura. Diese Aura hat mich schon immer gereizt. Als ich feststellte, dass es an staatlichen tunesischen Universitäten keinen Studiengang für Luft- und Raumfahrttechnik gibt und der einzige Weg in diesen Bereich über die Militärakademien führte, war ich zunächst ernüchtert. Nachdem ich dann für das tunesische Stipendienprogramm ausgewählt worden war, stieß ich im Internet auf einen Blogbeitrag, in dem verschiedene Universitäten in Deutschland mit ihren Ingenieurstudiengängen aufgelistet waren. Ich stolperte über die Universität Stuttgart und sah, dass sie für Luft- und Raumfahrttechnik bekannt war. Natürlich brauchte ich dann nicht viel Zeit, um mich zu entscheiden, was ich machen will und in welchem Bereich ich mein Hauptfach belegen werde.
Was ist der größte Unterschied zwischen Ihrem Geburtsort in Tunesien und Stuttgart?
Ich bin in der Stadt M'saken aufgewachsen, im Bundesstaat Sousse im Nordosten Tunesiens. Dort ist es in jeglicher Hinsicht anders als in Stuttgart. Ich dachte immer, das Leben in Sousse sei schnelllebig, bis ich hierher kam. In Stuttgart und Deutschland im Allgemeinen ist man immer in einem Wettlauf mit der Zeit. Trotzdem empfinde ich das Leben hier als einfacher, oder zumindest als überschaubarer. In Tunesien gibt es nie eine einzige unveränderliche Vorgehensweise, um etwas zu tun. Die Menschen müssen immer wieder andere, neue Wege gehen, um ihre Aufgaben zu erledigen. Es ist wie ein nicht enden wollendes Schachspiel, in dem sich die Regeln mit jedem Zug ändern. Die Zukunft ist immer unsicher. Es gibt wenig, was als selbstverständlich gilt.
Sie haben am Jahresprogramm der School for Talents teilgenommen und waren Teil eines interdisziplinären Teams. Welches Projekt haben Sie umgesetzt? Und was war das Besondere an dieser Zusammenarbeit?
Ich gehörte der Gruppe "Learning Spaces" an, einem fünfköpfigen Team, das sich ein ganzes Jahr lang damit beschäftigte, die Lernsituation der Studierenden an unserer Universität zu verbessern. Wir haben neue Ideen entwickelt, zum Beispiel ein neues, benutzerfreundliches Reservierungssystems für Lernräume. Die Arbeit war interessant, manchmal frustrierend, aber sie war es wert. Das Beste an der Arbeit war für mich, dass ich mich mit vielen potenziellen "Stakeholdern" auseinandersetzen musste, um sie für die Verwirklichung unserer Ideen zu gewinnen. Der Aufbau eines Netzwerkes ist eine wichtige Fähigkeit für den Erfolg jeder Idee, und so war es spannend, dies selbst, mithilfe meines Teams zu tun.
Warum engagieren Sie sich im Verein „Future Visions Association"?
Für dieses Engagement gibt es mehrere Gründe: Erstens geht es um die eigentliche Sache oder Vision, die wir zu verwirklichen versuchen, nämlich den Aufbau einer Gesellschaft von sozial, politisch und wirtschaftlich bewussten und aktiven Jugendlichen. Junge Menschen, die die Dinge selbst in die Hand nehmen und die Zukunft Tunesiens selbst bestimmen können. Erinnern Sie sich an das "chaotische Schachspiel", das ich vorhin beschrieben habe? Wir glauben, dass sich die Dinge in Tunesien so entwickelt haben, weil sich die Menschen der Veränderungen, die um sie herum geschehen, und vor allem der Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die diese Veränderungen umgeben, nicht bewusst sind. Stattdessen werden Verschwörungstheorien und der subtile Glaube an eine universelle Zufälligkeit, eine Zufälligkeit, die sich weder erklären noch begreifen lässt, als Begründung herangezogen. Einige von uns nennen dies "Mahmouta".
Ein weiterer Grund für mein Engagement liegt in meiner Wahrnehmung, dass die Überschaubarkeit des Lebens in Deutschland so verlockend ist, dass es den Menschen, sobald sie darin eingetaucht sind, sehr schwerfällt, den etwas chaotischeren Lebensstil in Tunesien zu akzeptieren oder mit ihm zu koexistieren. Das führt dazu, dass sie Tunesien wieder verlassen, sobald sie auf die geringsten Hürden stoßen. Ich habe das Gefühl, wenn ich das zulasse, könnte ich genauso enden. Deshalb engagiere ich mich in der Freiwilligenarbeit in Tunesien. So halte ich mich auf dem Laufenden über diese Art, Dinge "à la tunisienne" zu tun.
Welchen Tipp haben Sie für Menschen, die studieren und sich ehrenamtlich engagieren wollen?
Ich glaube nicht, dass ich über genügend Erfahrung verfüge, um den Menschen Ratschläge für ihr soziales Engagement zu geben. Mein Engagement im Verein "Future Visions Association" hat mit meinem Wunsch zu tun, eine Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn man durch seinen ehrenamtlichen Einsatz in einer Gruppe eine Vision umgesetzt hat, dann wird das Neue zu einer Selbstverständlichkeit für jede und jeden.